Mein Bondage · Kindheit und Jugend · Gefangen in der DDR · Lebensmitte · Betrachtungen im Alter
(in Vorbereitung)
Unbeschwerte Kindheit und Jugend
Als ich zehn Jahre alt war, schickte mein Vater mich wegen meiner schwachen Kräfte in den Judounterricht. Dort fand ich einen Kameraden, der gerne mit mir im Wald kämpfte, weil ich leicht zu überwältigen war. Nachdem er mehrmals eine Schnur aus der Tasche meiner Lederhose hängen sah, verstand er es als Ansporn, meine Niederlage zu bestätigen, indem er mich fesselte. Das wurde gegenseitig fester Bestandteil unserer spielerischen Kämpfe.
Wir fanden bald heraus, wie weit wir in gegenseitiger Demütigung gehen konnten, ohne unsere innige Freundschaft zu gefährden. Wie beim Judo fühlten wir uns als Uke und Tori bei den rauhen Spielen im Freien. Es gab auch friedliche Nachmittage, an denen wir Seite an Seite im Gras saßen und Comics lasen, aber ebenso "ernsthafte" Bücher, die uns unsere Eltern aus ihren Bücherschränken empfohlen hatten. Darunter befanden sich so gegensätzliche Werke wie Winnie-the-Pooh und Narziß und Goldmund. Beide Bücher habe ich mehrmals gelesen und denke immer noch, daß sie für meine Generation ein Muß waren. Während des Lesens waren wir oft an den Ellbogen zusammengebunden. "Damit du nicht abhauen kannst, falls ich einschlafe", begründete Tori diese Maßnahme.
Tja – ein Seil kann man jederzeit entknoten. Es hinterläßt andererseits rote Flecken auf der Haut. Das führte zu Hause beim Abendessen zu peinlichen Fragen. Hans-Rainer fand bald Gefallen an der Idee, eiserne Fesseln zu verwenden und kaufte von unserem Taschengeld eine dünne, vernickelte Kette und zwei Bügelschlösser. Das Ensemble war eine Vorwegnahme des Prinzips professioneller Hand- und Fußfesseln, auf die ich noch viele Jahre warten mußte.
Mit einer Kette und zwei Bügelschlössern konnten wir als Gefangene so zusammengefaltet werden, daß wir absolut hilflos waren. Für klassische Handfesseln vor dem Körper oder auf dem Rücken oder auch für einen Hogtie waren 120 cm Kette immer lang genug. Das anspruchslose Material, vor sechzig Jahren bei Woolworth gekauft, ist noch immer rostfrei und einsatzbereit.
An Regentagen spielten wir zu Hause. Ich war beschämt, wenn mein Vater mich gefesselt auf einem Stuhl sitzen oder auf dem Boden liegen sah. Er schüttelte den Kopf und urteilte: "Das passiert mit jemandem, der sich nicht genug wehrt, Junge!" – "Ich wehre mich, so gut ich kann, Papa. Aber oft ist Hans-Rainer stärker als ich. Eigentlich kann er mit mir machen, was er will." Mein Pa hatte sich nie in unsere Spiele eingemischt, geschweige denn mich befreit. Vielleicht, weil mein Freund mit zwölf Jahren besser Schach spielte als er und ihn lässig austrickste. Der Mathematiker wurde von einem gewitzten Schüler ähnlich hinters Licht geführt wie ich.
Von der Pubertät an nahmen Häufigkeit und Intensität unserer Aktivitäten ab, nicht zuletzt, weil die Mädchen bei Hans-Rainer, der nicht wußte, daß er für mich Goldmund bedeutete, viel früher als bei mir ihr Interesse an einem männlichen Körper zeigten, während ich eine Karriere als Narziß plante und dazu vorerst weitere fesselnde Erfahrungen bei den Pfadfindern suchte.
Vom Aufbau der Zelte wußten sie eine Menge über Schnüre und Knoten. Bei Geländespielen entwickelte ich die Taktik, mich so ungeschickt zu bewegen, daß ich zur leichten Beute wurde. Dann versuchte ich auf sehr ungeschickte Weise, meinem Bewacher zu entkommen, und machte prompt Bekanntschaft mit dünnen Seilen, die meine Hand- und Fußgelenke fest zusammenbanden. Die Jungs waren beileibe nicht von gestern und merkten schnell, daß mir die Fesseln wenig ausmachten.
Im Alter von 15 Jahren wurden die Sommerferien zum Prüfstein, wieviel Gefangenschaft ich ertragen konnte und wie lange ich sie als Vergnügen empfand. Ich nahm an einer längeren Freizeit in der Lüneburger Heide teil. Bei einem zweitägigen Gruppenspiel verfiel ich bald in meine übliche laxe Taktik und mußte im Freien stundenlang gefesselt ausharren. Die Leute meiner Gruppe machten seltsamerweise keinen Versuch, mich zu befreien. Hatten sie mich als brauchbaren Spieler abgeschrieben? Vom Abendbrot an galt die Regel, daß alle Fehden bis zum nächsten Morgen nach dem Frühstück ruhen sollten.
Das Wetter spielte mit. Draußen wurde viel geplaudert und gescherzt, und nachdem keiner von ihnen dabei war, machten wir uns über den einen oder anderen Lehrer lustig. Zwei Jungen hatten ihre Gitarren mitgebracht und begleiteten den vielstimmigen Gesang Kein schöner Land in dieser Zeit. Dann wurde es international: Sur le pont d'Avignon und There was a house in New Orleans. Was die Nachtruhe anging, war die Hausordnung der Herberge streng: Ausgangssperre und Licht aus um 22 Uhr.
Kaum hatte ich mir die Zähne geputzt, tauchten Hans-Rainer und ein anderer auf. Beide schwangen Zeltschnur. Sie zwangen
mich auf mein Bett, fesselten meine Füße an den Rahmen und meine Hände auf den Rücken. Dann teilten sie mir mit, die Spielleitung habe beschlossen, mir das Vergnügen zu gewähren, gefesselt zu
schlafen, denn offensichtlich gefiele es mir. Später erfuhr ich, die Bande hatte Wetten abgeschlossen, ob ich vor oder nach Mitternacht um Gnade betteln würde. Ungeachtet der etwas unbequemen
Position und des trotzigen Gedankens Warum grade ich – es wären doch so viele da, war ich jedoch bald eingeschlafen und bis zum Morgen nicht ein einziges Mal aufgewacht.
Meine Mitgliedschaft bei den Pfadfindern dauerte zweieinhalb Jahre. Im Herbst meines 17. Lebensjahres verließ ich die Gruppe. Weder mein zarter Körperbau noch mein unruhiger Geist fühlten sich auf Dauer wohl unter so vielen selbstbewußten Jungen, alle stärker als ich.
Bis zum Ende der Schulzeit war ich viel allein. Meine ältere Schwester konnte den Haushalt neben ihrem Vollzeitberuf mit vielen Überstunden nur recht und schlecht führen. Ich besorgte die Einkäufe und hielt die Wohnung einigermaßen sauber. Mein Vater lebte mit einer Frau zusammen, die er bald nach dem frühen Tod meiner Mutter kennengelernt hatte. Er schaute nur gelegentlich nach uns, wobei ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, er sähe in mir mehr einen engen Freund als seinen Sohn.
Mein fesselndes Erleben war auf Do it yourself beschränkt. In einer langen Testphase erkundete ich Positionen, aus denen ich mich zuverlässig befreien konnte. Die Frage, wie die körperliche Beweglichkeit mit einem Minimum an Zeit und Material mehr oder weniger auf Null gebracht werden kann, stand im Vordergrund. Die Fesseln sollten in ungestörter Ruhe für eine Stunde oder auch länger bequem sein, je nach schulischen Belangen und was der Tag sonst noch so mit sich brachte.
Mein Favorit wurde der Schneidersitz. Die Fußknöchel wurden mit einem Ledergurt über Kreuz zusammengeschnallt und mit einem Bügelschloß gesichert. Über den Kopf kam der luftdurchlässige Turnbeutel für den Schulsport. Etwas diffuses Licht schimmerte durch, doch zu erkennen war nichts. Die Handgelenke wurden hinter dem Rücken zusammengekettet. Das alles war in weniger als fünf Minuten erledigt. Die Schlüssel lagen neben mir. Aufstehen ging nicht mehr, bestenfalls konnte ich noch mühsam auf dem Po umherrutschen. Es führte zu einer Panne, typisch für einen Eleven im Erlernen der Fesselkunst – ich entfernte mich zu weit von den Schlüsseln und konnte sie nicht mehr finden. Blind verliert man schnell die Orientierung und verirrt sich im eigenen Zimmer. Zum Glück kam meine Schwester bald nach Hause.
Im Bild oben wurde die Kette aus den Spielen mit Hans-Rainer durch meine ersten Llama Handschellen ersetzt, denen ich seit 1971 in inniger Freundschaft verbunden bin.
Macht Bondage einen Sinn in der Gewißheit jederzeit verfügbarer Selbstbefreiung? Für mich nicht. Zumindest wünsche ich eine wie auch immer geartete zeitliche Verzögerung, und seien es nur fünfzehn Minuten. Wann immer ich später ungehinderten Zugang zu den Schlüsseln hatte, verlor ich den Respekt vor Ketten und Schlössern und auch ein wenig vor mir selbst. Doch in jenen Jahren, als ich oft genauso hungrig auf ein Stück Brot war wie aufs Fesseln, hatte ich keine Wahl. Als sportliche Betätigung kann es trotzdem noch schön sein, nur fehlt das gewisse Etwas. Die meditative Seite einer Fesselung erschloß sich mir schon früh, als Hans-Rainer mir jede Möglichkeit der Selbstbefreiung verwehrt hatte. Sonst hätte sich die meditative Geborgenheit für Körper und Seele schon damals nicht einstellen können. Nun saß ich Teenager ohne jeden Mitspieler im Dilemma, Tori und Uke gleichzeitig verkörpern zu müssen. Die Schlüssel hielt ich in der Hand, hätte sie aber in Ehrlichkeit gegenüber mir selbst eigentlich gar nicht haben dürfen.
© Harald Bergander · 2022
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